OBEN
Im Februar 2021 hat die Europäische Kommission den Aktionsplan „Europe’s Beating Cancer Plan“ veröffentlicht. Neben Aspekten der Prävention und Behandlung von Krebserkrankungen geht es dabei auch um die Sicherung der Lebensqualität von Krebspatienten und ‑überlebenden.
Explizit wird auf den Zugang zu finanziellen Dienstleistungen hingewiesen, der – im Falle von Lebensversicherungen – oft durch erhöhte Prämien trotz langer Zeit in Remission erschwert werde. Die Europäische Kommission fordert daher ein „Recht auf Vergessen“, das „Right to be Forgotten“, welches sicherstellen soll, dass ehemalige Krebspatienten, die ihre Krankheit erfolgreich überwunden haben, keine Benachteiligung beim Abschluss von notwendigen Versicherungen erfahren.1
Einige Länder haben ein solches Recht auf Vergessen bereits umgesetzt. Nachdem Frankreich 2016 begann, folgten Belgien, Luxemburg und die Niederlande 2020 und 2021 sowie Portugal Anfang 2022 und Rumänien im September 2022. In Italien wurde dem Senat ein Gesetzesentwurf vorgelegt, der auch Adoptionsrechte für Krebsüberlebende vorsieht.2 Die Abbildungen 1 und 2 geben einen Überblick über die Gesetzgebung des Rechts auf Vergessen in verschiedenen EU‑Ländern. Im „Europe’s Beating Cancer Plan“ werden alle EU‑Länder aufgefordert, sich für die Umsetzung der Krebsbekämpfung einzusetzen. Wir erwarten deshalb, dass auch weitere (europäische) Länder sich gezwungen sehen werden, diesem Beispiel zeitnah zu folgen.
Das Gesetz soll die Lebensqualität von Krebsüberlebenden unter anderem dadurch sichern, dass es den Zugang zu einer Grundversorgung mit Finanzdienstleistungen gewährleistet. Obwohl es in der Regel keine gesetzliche Verpflichtung gibt, eine Lebensversicherung bei der Aufnahme eines Kredits abzuschließen, gilt es als gängige Praxis, dass Banken und Kreditgeber Kredite nur dann gewähren, wenn eine solche Versicherung besteht.3,4,5,6 Um das Gesetz auf diese spezielle Situation auszurichten, hatten zumindest die ersten Umsetzungen zum Recht auf Vergessen einen engen Anwendungsbereich. Dieser bezog sich nur auf bestimmte Arten von Lebensversicherungen und enthielt zusätzliche Beschränkungen in Bezug auf Höchstversicherungssummen und Altersklassen (Abbildung 1).
Vergleich der Gesetzgebung des Rechts auf Vergessen in verschiedenen EU‑Ländern8‑21 – Arten von Versicherungsschutz, Versicherungssummen und Unterschiede bei der Deklaration (Stand: 01.11.2022)
Der Kern des Rechts auf Vergessen ist, dass Versicherer bei der Berechnung der Versicherungsprämien keine medizinischen Informationen über Krebserkrankungen berücksichtigen dürfen, die länger als einen bestimmten Zeitraum zurückliegen (in der Regel fünf oder zehn Jahre). Die Berechnung dieses Zeitraums erfolgt nicht ab der Krebsdiagnose, sondern ab dem Abschluss der Behandlung, und nur für solche Krebspatienten, die „in Remission“ sind, d. h., bei denen keine Krebserkrankung mehr nachweisbar ist. Für bestimmte Krebserkrankungen, die eine besonders gute Prognose und ein geringes Rückfallrisiko haben, gelten verkürzte Fristen. Darüber hinaus werden häufig weitere chronische Krankheiten aufgeführt, die ebenfalls ohne oder nur mit einem festgelegten maximalen Zuschlag anzunehmen sind. Dazu gehören vor allem Hepatitis C und HIV. Diese Erkrankungen sind in sogenannten Referenzrahmen oder „reference grids“ definiert, die sich je nach Land und Gesetzgebung etwas unterscheiden (Abbildung 2).
Zeiträume für die Anwendung und Krankheiten mit besonderen Bedingungen (Stand: 01.11.2022)
Der portugiesische Referenzrahmen bezieht ausdrücklich chronische Krankheiten in das Recht auf Vergessen mit ein und formuliert, dass „im Falle eines erhöhten Gesundheitsrisikos oder einer gemilderten Behinderung […] nach zwei Jahren ununterbrochener wirksamer Behandlung keine medizinischen Informationen mehr eingeholt werden [können]“. Allerdings gibt es noch keinen definierten Referenzrahmen, an dem sich die Versicherer bei der Anwendung des Gesetzes orientieren könnten.
Der portugiesische Verband der Versicherer (Associação Portuguesa de Seguradores, APS) hat nach dem Vorbild Luxemburgs und Belgiens eine Tabelle für Krebserkrankungen mit guter Prognose und Hepatitis C erstellt. Dennoch bleibt die Vorgehensweise bei anderen Erkrankungen wie Diabetes und HIV unklar, was zu Unsicherheiten bei den Antragstellern und den Versicherungsgesellschaften führt.
Während die ersten Anfänge des Gesetzes recht klar und begrenzt waren, sind die jüngsten Entwicklungen des Rechts auf Vergessen weitreichender.
Obwohl die passende Umsetzung des Gesetzes unklar bleibt, weitet die portugiesische Version das Recht auf Vergessen auf chronische Krankheiten nach einer „wirksamen und kontinuierlichen Behandlung über zwei Jahre“ aus.
In Frankreich wurde die Gesetzgebung zum Recht auf Vergessen zum 1. Oktober 2022 erneut angepasst: Eine HIV‑Infektion wird nun nicht mehr mit einem maximal möglichen Zuschlag versehen, sondern muss von der Risikoprüfung vollständig ignoriert werden, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind.8 Außerdem wurde Anfang des Jahres 2022 der Zeitraum des Rechts auf Vergessen für alle Altersgruppen auf maximal fünf Jahre verkürzt und die medizinische Risikoprüfung für Darlehensversicherungen mit einer Versicherungssumme von bis zu 200.000 EUR grundsätzlich abgeschafft.8
Als Neuheit hat der belgische Versicherungsverband Assuralia seine Mitglieder auf einen Verhaltenskodex verpflichtet, der das Recht auf Vergessen auf die „Guaranteed Income Insurance“ ausweitet, eine Invaliditätsversicherung, die bei längerer Krankheit oder Invalidität die Differenz zwischen dem normalen Gehalt und dem öffentlichen Sozialversicherungssystem ausgleicht.7
Im Hinblick auf die jüngsten Entwicklungen und die absehbare Umsetzung des Rechts auf Vergessen in weiteren Ländern wollen wir in diesem Artikel die Auswirkungen des Gesetzes für die Versicherungswirtschaft kommentieren und diskutieren. Darüber hinaus ist es unser Ziel, eine Basis für einen gemeinsamen Dialog zwischen Vertretern aus Politik, Patientengruppen und Versicherungswirtschaft zu schaffen, um eine konsensuale Regelung für Länder zu erreichen, welche die Umsetzung des Rechts auf Vergessen oder eine Erweiterung bestehender Gesetze planen.
Um das Risiko abzuschätzen, dem die Versicherer durch das Recht auf Vergessen ausgesetzt sein mögen, geben wir im Folgenden einen Überblick – einerseits über das Krebsrisiko im Allgemeinen mit Schwerpunkt auf dem langfristigen Sterberisiko, andererseits darüber, wie sich das Recht auf Vergessen auf das Portfolio eines Versicherers auswirken könnte.
Die Anzahl der Menschen, die nach einer Krebsdiagnose leben, wird als Anzahl prävalenter Fälle bezeichnet. Sie hat in den letzten 30 Jahren stark zugenommen und erreicht in mehreren Ländern etwa 5 % der Gesamtbevölkerung.22 Dieser Trend wird mit einer steigenden Zahl neuer Krebsdiagnosen (vor allem aufgrund der Bevölkerungsalterung) sowie erhöhten Krebsüberlebensraten aufgrund von besserer Krebsvorsorge und ‑behandlung begründet.
Im Jahr 2020 gab es in Europa etwa 20 Millionen Krebsüberlebende, von denen etwa ein Drittel im erwerbsfähigen Alter23 und somit auch potenzielle Kandidaten für den Abschluss eines Versicherungsschutzes sind. Zu dieser wachsenden Gruppe von Menschen gehören Krebspatienten, die sich aktuell in Behandlung befinden, sowie Patienten, die sich in Remission befinden, d. h., die krebsfrei geworden sind, aber immer noch ein messbar erhöhtes Risiko für eine Rückkehr des Krebses oder eine erhöhte Sterblichkeit haben, und zuletzt Patienten, die als geheilt gelten, da sie die gleiche Sterblichkeitsrate wie die Allgemeinbevölkerung erreicht haben.24
Im Rahmen des Rechts auf Vergessen werden alle Krebsarten fünf oder zehn Jahre nach Abschluss der Behandlung ohne Risikoprüfung und somit als Normalrisiko angenommen. Wie wird sich das Recht auf Vergessen auf das Portfolio der Versicherer auswirken, wenn risikoausgleichende Maßnahmen nicht mehr möglich oder nur noch für bestimmte Arten von Versicherungsschutz zulässig sind? Haben Krebsüberlebende noch eine signifikant erhöhte Sterblichkeit, wenn sie zehn Jahre und länger krebsfrei waren? Im Folgenden präsentieren wir dazu Ergebnisse aktueller medizinischer Studien.
Die Lebenserwartung und die Überlebensrate variieren sehr stark zwischen den verschiedenen Krebsarten und sind abhängig von vielen Faktoren, wie z. B. dem Alter des Patienten, dem diagnostizierten Krebsstadium und der durchgeführten Krebstherapie. Zwei wichtige Indikatoren der Krebssterblichkeit sind die Cure Fraction (Heilungsrate) und die Time to Cure (Zeit bis zur Heilung). Die Cure Fraction beschreibt den Anteil der Krebspatienten, der die gleiche Sterblichkeit wie die Allgemeinbevölkerung erreicht. Die Time to Cure spiegelt die Anzahl der Jahre wider, die vergehen, bis sich die Sterblichkeit der Krebspatienten der Sterblichkeit der Normalbevölkerung angeglichen hat.25
Es gibt mehrere Krebsarten, die eine besonders gute Prognose haben, wenn sie in einem frühen Stadium diagnostiziert werden. Dazu gehören beispielsweise Hodenkrebs und Schilddrüsenkrebs mit einer Cure Fraction von 94 % bzw. 98 % und einer Time to Cure von weniger als einem Jahr nach Diagnose.25
Krebserkrankungen dieser Gruppe können heute eher als chronische Krankheiten und nicht als Todesurteil angesehen werden, sodass es legitim ist, sie bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu „vergessen“, als in den jeweiligen Referenzrahmen definiert ist.
Eine weitere Gruppe von Krebserkrankungen wurde identifiziert, für welche die krebsbedingte Übersterblichkeit in weniger als zehn Jahren vernachlässigbar klein wurde. Dies ist beispielweise bei Patienten unter 45 Jahren mit Hodgkin-Lymphom, Hautmelanom und Gebärmutterhalskrebs der Fall.24 Außerdem sinkt z. B. für Darmkrebspatienten und jüngeren Patienten mit Magenkrebs die Übersterblichkeit innerhalb von zehn Jahren nach der Diagnose auf ein vernachlässigbares Niveau.24
Bei dieser Gruppe von Krebserkrankungen scheint die Sterblichkeit nach zehn Jahren im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung nicht signifikant erhöht zu sein, weshalb es legitim sein sollte, sie zehn Jahre nach Abschluss der Behandlung zu „vergessen“.
Es gibt Krebsarten, bei denen ein signifikantes Risiko des Wiederauftretens oder des Todes auch noch später als zehn Jahre nach der Diagnose besteht. Dazu gehören beispielsweise Lungenkrebs mit einer Time to Cure von mehr als zehn Jahren, Brustkrebs mit einer Time to Cure von zehn bis 17 Jahren oder Blasenkrebs mit einer Time to Cure von 18 bis 20 Jahren.24,25
Diese Gruppe von Krebserkrankungen ist für die Versicherer im Rahmen des Rechts auf Vergessen relevant, da die krebsbedingte Sterblichkeit auch zehn Jahre nach der Diagnose noch erhöht ist.
Auch Jahre oder Jahrzehnte später können gesundheitliche Einschränkungen als Folge einer Krebstherapie auftreten. Diese werden als Spätfolgen bezeichnet. Krebsüberlebende können je nach Art der Behandlung anfälliger für die Entwicklung einer weiteren bösartigen Erkrankung (Sekundärmalignom) oder anderer chronischer Erkrankungen sein. Darunter sind Schilddrüsenstörungen, Diabetes, neurologische Komplikationen, Leberversagen, Nierenerkrankungen oder Herzversagen die häufigsten.26
Eine kürzlich durchgeführte Studie untersuchte die Spätfolgen von Krebstherapien über einen Zeitraum von 20 Jahren bei Kindern und jungen Erwachsenen, deren Diagnose vor dem 25. Lebensjahr stattfand. Darin zeigte sich, dass das Ausmaß der Spätfolgen insbesondere vom Krebstyp, dem sozioökonomischen Status, der Therapiedauer und der Therapieform beeinflusst wird. Im Vergleich zur Kontrollgruppe hatten die Krebsüberlebenden ein deutlich höheres Morbiditätsrisiko, welches unabhängig von der primären Krebsdiagnose und dem sozioökonomischen Status war.26
Dies ist für die Population des Rechts auf Vergessen sehr relevant, da zehn Jahre vergangen sein werden, wenn diese Altersgruppe das typische Alter für die Beantragung einer Lebensversicherung in Verbindung mit einer Kreditabsicherung erreicht. Die Spätfolgen einer Krebsbehandlung dürfen zwar in der Risikoprüfung berücksichtigt werden, die ursprüngliche Krebserkrankung jedoch nicht. Dies ist eine Herausforderung für die tägliche Arbeit der Risikoprüfer in den jeweiligen Ländern, in denen das Recht auf Vergessen bereits in Kraft getreten ist.
Im Folgenden wollen wir der Frage nachgehen, wie hoch die Übersterblichkeit aller Krebsarten zusammengenommen zehn und mehr Jahre nach Diagnose tatsächlich noch ist. Diese Betrachtung ist für Lebensversicherer besonders relevant, da beim Recht auf Vergessen die Risikoprüfung nach einer bestimmten Zeit entfällt und somit alle Krebsarten als Normalrisiko ins Portfolio der Versicherer gelangen.
Es gibt nur wenige aktuelle Studien, welche die Überlebensraten aller Krebsarten zusammengenommen untersuchen. Die Autoren einer italienischen Studie an Krebspatienten im Alter von 45 bis 80 Jahren, welche über einen Zeitraum von 28 Jahren nach ihrer Diagnose beobachtet wurden, kommen zu dem Schluss, dass „die langfristige Lebenserwartung von Krebspatienten sich der Lebenserwartung der Allgemeinbevölkerung annähert, diese aber nur selten erreicht“.28
Eine andere Studie an schwedischen Krebspatienten, bei denen die Diagnose im Alter von 60 Jahren gestellt wurde und welche 17 Jahre lang nach der Diagnose beobachtet wurden, zeigte, dass Krebspatienten in den ersten Jahren nach der Diagnose eine erhöhte Sterblichkeitsrate im Vergleich zur Gesamtbevölkerung aufwiesen, welche sich fünf bis zehn Jahre nach der Diagnose dem Sterblichkeitsniveau der Gesamtbevölkerung annäherte, es aber auch 17 Jahre nach der Diagnose noch immer nicht erreicht hatte.27
Die langfristig erhöhte Sterblichkeit von Krebsüberlebenden kann auf Krebsrezidive, Sekundärmalignome und Spätfolgen der Krebsbehandlung zurückgeführt werden.27,28 Darüber hinaus kann das Fortbestehen von Lebensgewohnheiten, die möglicherweise zur Entstehung von Krebs beigetragen haben (z. B. Rauchen und ungesunde Ernährung), die Überlebensrate der Patienten langfristig weiter verringern.27,28
Die krebsbedingte Übersterblichkeit wurde in den oben genannten Veröffentlichungen jedoch nicht quantifiziert. Um das Risiko abzuschätzen, dem die Versicherer im Rahmen des Rechts auf Vergessen ausgesetzt sind, haben wir nachfolgend Daten aus dem US‑Krebsregisterprogramm Surveillance, Epidemiology and End‑Results (SEER) aus den Jahren 2000 bis 2018 analysiert.29
Da die Versicherer unter dem Recht auf Vergessen keine Information zur Krebsart erhalten, betrachten wir das Sterberisiko für alle Krebsarten zusammengenommen. Dafür haben wir die relative Sterblichkeit von Krebspatienten, die in den Jahren 2000 bis 2018 diagnostiziert wurden, mithilfe von Daten aus der SEER-Datenbank berechnet.29 Die relative Sterblichkeit ist das Verhältnis der sogenannten beobachteten Sterblichkeit von Krebspatienten zur sogenannten erwarteten Sterblichkeit der Allgemeinbevölkerung und dient daher als ein Maß für die Übersterblichkeit von Krebspatienten. Die statistische Analyse wurde mit der Software R, Version 4.0.2, durchgeführt. Zur Bestimmung der Signifikanz wurde ein Tukey-Test und eine Bonferroni-Korrektur für Mehrfachtests angewendet. Weitere Einzelheiten zu den Datenextraktionsmethoden und statistischen Analysen sind auf Anfrage erhältlich.
Die relativen Sterblichkeiten in Abhängigkeit vom Jahr nach Diagnose sind in Abbildung 3 für verschiedene Altersgruppen dargestellt. Es ist wichtig zu beachten, dass die X‑Achse die Jahre nach der Diagnose angibt und nicht die Jahre nach dem Ende der Behandlung, welche für das Recht auf Vergessen relevant sind. Wenn wir davon ausgehen, dass eine Krebsbehandlung in der Regel etwa zwei Jahre dauert, sind für uns die Zeitpunkte sieben und zwölf Jahre nach der Diagnose besonders wichtig. Sie sind wegen der fünf und zehn Jahre nach Behandlungsende die relevanten Zeitpunkte für das Recht auf Vergessen.
Im Zeitraum von ein bis 18 Jahre nach der Diagnose für verschiedene Altersgruppen mit logarithmisch skalierter Y‑Achse. Die relative Sterblichkeit gibt die Übersterblichkeit von Krebspatienten im Verhältnis zur Bevölkerungssterblichkeit an (gestrichelte schwarze Linie).
Die SEER-Daten29 in Abbildung 3 zeigen, dass die relative Sterblichkeit von Krebspatienten im ersten Jahr nach der Diagnose am höchsten ist und danach zwar stark abnimmt, allerdings auch noch nach 18 Jahren über der Bevölkerungssterblichkeit liegt. Der stärkste Rückgang der relativen Sterblichkeit ist innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Diagnose zu beobachten.
Im Vergleich zu älteren Altersgruppen ist die relative Sterblichkeit bei jüngeren Altersgruppen über den gesamten Zeitraum der 18 Jahre deutlich höher. Dabei zeigt sich insbesondere ein signifikanter Unterschied in der Höhe der relativen Sterblichkeit zwischen den unter 30‑jährigen und den über 50‑jährigen Krebspatienten. Darüber hinaus bleibt die absolute Differenz der relativen Sterblichkeit zwischen den verschiedenen Altersgruppen auch für den Bereich nach zwölf Jahren noch signifikant unterschiedlich.
Die relativ hohe Übersterblichkeit der 15‑ bis 20‑jährigen Krebspatienten ist für das Recht auf Vergessen besonders relevant, da bei dieser Altersgruppe eine Krebsdiagnose in der Regel bereits fünf Jahre nach Behandlungsende vergessen werden muss.
Die SEER-Daten zeigen, dass die Sterblichkeit bei Krebsüberlebenden zwölf bis 18 Jahre nach der Diagnose immer noch höher ist als die der Allgemeinbevölkerung. Die entsprechenden Raten in Tabelle 1 zeigen den x‑fachen Anstieg der Sterblichkeit in der Krebsbevölkerung im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. So ist die Sterblichkeit von Krebspatienten im Alter von 30 bis 39 Jahren zwölf Jahre nach der Diagnose um das Vierfache höher als in der Allgemeinbevölkerung, und 18 Jahre nach der Diagnose ist sie immer noch um das 2,6‑Fache erhöht. Es sei darauf hingewiesen, dass die Sterblichkeit in der Allgemeinbevölkerung auch Personen einschließt, die an Krebs gestorben sind, und dass Krebs bei über 45‑Jährigen sowohl bei Männern als auch bei Frauen zu den häufigsten Todesursachen in den USA gehört.
Im Zeitraum von ein bis 18 Jahre nach der Diagnose für verschiedene Altersgruppen. Die relative Sterblichkeit gibt die Übersterblichkeit von Krebspatienten im Verhältnis zur Bevölkerungssterblichkeit an.
50‑ bis 70‑jährige Krebspatienten nähern sich der Sterblichkeit der Bevölkerung schneller an als jüngere Altersgruppen: Patienten im Alter von 50 bis 60 Jahren haben zwölf Jahre nach der Diagnose nur eine 1,6‑fache Erhöhung der Sterblichkeit, welche innerhalb der folgenden zwei Jahre auf einen Faktor von 1,2 sinkt und auf diesem Niveau bis zu 18 Jahren nach der Diagnose verbleibt.
Anmerkung: Um eine europäische Perspektive zu erhalten, haben wir die US‑amerikanischen SEER-Daten mit den Sterblichkeitsdaten des deutschen Krebsregisters30 verglichen und einen hohen Grad an Übereinstimmung festgestellt (Daten nicht gezeigt, auf Anfrage erhältlich).
In den Ländern, in denen das Recht auf Vergessen bereits umgesetzt wurde, gibt es einerseits die Beschränkung auf Hypotheken- und Darlehensversicherungen und andererseits eine Begrenzung des Endalters. Folglich ist der Personenkreis, der zum jetzigen Zeitpunkt vom Recht auf Vergessen profitiert, sehr spezifisch. Im Folgenden wollen wir diesen Personenkreis genauer untersuchen und gehen dabei speziell von der Beschränkung auf Hypotheken- und Darlehensdeckungen aus.
Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich zu untersuchen, in welchem Alter üblicherweise Hypothekenkredite aufgenommen werden. Abbildung 4 zeigt deutsche Daten zu dem Anteil der privaten Haushalte mit einer Hypothekenrestschuld nach dem Alter des Haupteinkommensbeziehers im Jahr 2013.31 Dabei ist zu beachten, dass die Statistik sich auf das Bestehen einer Restschuld bezieht. Der Abschluss des Hypothekendarlehens dürfte daher einige oder sogar viele Jahre früher erfolgt sein.
Geht man von einem ähnlichen Verhalten der Verbraucher aus, so würde die dominierende Altersgruppe für das Recht auf Vergessen ungefähr zwischen 25 und 65 Jahren liegen, wobei der Großteil zwischen 35 und 50 Jahren alt sein dürfte. In vielen Ländern ist das Recht auf Vergessen ab einem Alter von 70 Jahren nicht mehr anwendbar, sodass die Altersgruppe zwischen 60 und 70 Jahren nicht mehr vom Recht auf Vergessen profitieren wird.
Zusammenfassend gehen wir davon aus, dass die Altersgruppe, die für das Recht auf Vergessen von Interesse ist, zwischen 25 und 60 Jahren liegt.
In Abbildung 5 sehen wir die Inzidenzrate von Krebs aus den SEER-Daten29 für verschiedene Altersgruppen, wobei die relevanten Altersgruppen blau hervorgehoben sind. Die Inzidenzrate gibt dabei die Anzahl der neu diagnostizierten Krebsfälle innerhalb einer definierten Population in einem bestimmten Zeitraum an und wird meist auf pro 100.000 Personen umgerechnet.
Die für das Recht auf Vergessen relevante Altersgruppe ist blau hervorgehoben. Nach Alter bei der Diagnose, wobei die Diagnose im Zeitraum 2000 – 2018 liegt, basierend auf der SEER‑Datenbank.
Die Krebsinzidenzraten steigen im Allgemeinen mit dem Alter und besonders stark ab einem Alter von 60 Jahren an. Der Anteil der unter 60‑Jährigen, also der Altersgruppe, die für das Recht auf Vergessen von Interesse ist, macht nur etwa 16 % aller Krebsfälle aus.
Daraus ergibt sich, dass das Recht auf Vergessen nur auf einen kleinen Teil aller Krebsfälle Anwendung finden wird.
Die obigen Erkenntnisse lassen sich in Abbildung 6 zusammenfassen, die ein Modell zeigt, welches die drei Aspekte relative Sterblichkeit, Krebsinzidenz und die ermittelte Population des Rechts auf Vergessen im Verhältnis zum zunehmenden Alter kombiniert.
Unter 25‑Jährige haben zwar eine höhere Sterblichkeitsrate nach einer Krebsdiagnose, werden aber bereits fünf Jahre nach Ende der Behandlung zu Standardraten angenommen. Gleichzeitig gibt es nur sehr wenige Krebserkrankungen, die in jungem Alter diagnostiziert werden, sodass die Bevölkerungsgruppe mit diesem hohen Risiko, die einen Versicherungsschutz beantragen könnte, eher klein ist. Für über 50‑Jährige ist die Sterblichkeit relativ gesehen niedriger, aber in dieser Gruppe steigt die Krebsinzidenz bereits merkbar an. Daher bleibt die niedrigere Krebssterblichkeit für die Portfolios der Versicherer aufgrund der größeren Zahl von Krebsfällen von Bedeutung.
Die derzeitige Praxis in der Risikoprüfung für Krebs unterscheidet sich methodisch nicht von der Bewertung anderer Krankheiten. Unterschiede in der Behandlung von Krebspatienten und Antragstellern ohne Krebsvorgeschichte werden nur dann angewandt, wenn diese Unterschiede so gerechtfertigt werden können, wie es die Antidiskriminierungsgesetze weltweit verlangen. Dies bedeutet, dass es medizinische Evidenz für eine erhöhte Sterblichkeit oder Morbidität im Zusammenhang mit der Erkrankung geben muss und dass anerkannte Grundsätze versicherungsmathematischer Berechnungen anzuwenden sind, um eine dem Risikoniveau angemessene Einschätzung zu treffen.
Um Krebspatienten zu versichern, werden daher bewährte klinische Parameter berücksichtigt.
Die Einschätzungen unterscheiden sich nicht nur nach der Art und Lokalisation des Krebses, sondern auch nach zusätzlichen Faktoren, die eine feinere Differenzierung des Risikos ermöglichen. Dies ist dann der Fall, wenn es ausreichende Hinweise auf die Relevanz solcher Faktoren gibt. Klassische Faktoren sind zum Beispiel:
Die Risikoprüfungsentscheidung spiegelt das ermittelte Risiko so genau wie möglich wider, d. h.,
Dies bedeutet, dass eine frühere Krebserkrankung zwar nicht ignoriert wird, sich aber nicht zwangsläufig nachteilig auf die Risikoprüfungsentscheidung auswirkt. Wenn einige Jahre nach Ende der Behandlung keine erhöhte Sterblichkeit mehr besteht, wird ein Antragsteller auch mit einer Krebsvorgeschichte zu Standardkonditionen akzeptiert. Dies kann je nach Krebs auch früher als zehn Jahre seit dem Ende der Behandlung der Fall sein.
Die Cure Faction bezieht sich auf die Allgemeinbevölkerung. Die durchschnittliche Versichertengemeinschaft hat jedoch ein deutlich niedrigeres Sterblichkeitsniveau als die allgemeine Bevölkerung. Dies liegt unter anderem am Unterschied im sozioökonomischen Status als auch am unterschiedlichen Anteil der Personen mit Vorerkrankungen sowie an der deutlich unterschiedlichen Altersstruktur. Daher können wir nicht davon ausgehen, dass kein Aufschlag auf eine Prämie nötig wäre, wenn ein gewisses Sterblichkeitsniveau oder eine verbleibende Lebenserwartung dem der Allgemeinbevölkerung ähnlich oder sogar gleich ist.
Die Übernahme erhöhter Risiken ohne Ausgleich durch Prämienzuschläge kann sich auf die Zugänglichkeit von Lebensversicherungen auswirken, da sie ggf. eine Erhöhung der Grundprämie für alle Versicherten erforderlich macht. Um diesen Effekt möglichst gering zu halten, muss ein Ausnutzen des Systems, die Begünstigung von erhöhten medizinischen Risiken bei nicht notwendigen und höheren Versicherungssummen sowie Antiselektion verhindert werden.
Aus diesem Grund könnte man überlegen, dass eine Anwendung des Rechts auf Vergessen nur auf notwendige Versicherungsdeckungen, wie Hypotheken für einen Hauptwohnsitz oder eine Betriebsstätte, zu empfehlen ist. Außerdem sollten Höchstgrenzen der Versicherungssumme gelten, die sich an den durchschnittlichen Lebenshaltungskosten der entsprechenden Länder orientieren. Dadurch wird die Antiselektion begrenzt und der Zugang zu den wichtigsten finanziellen Dienstleistungen sichergestellt. Die Erfahrungen, die dadurch gesammelt werden, können bei einer eventuellen zukünftigen Ausweitung des Rechts angewandt werden.
Wie funktioniert die Deklaration im Rahmen des Rechts auf Vergessen? Wer sollte eine frühere Krebsdiagnose „vergessen“ – der Antragsteller oder der Versicherer? Werfen wir einen Blick auf die Situation in den verschiedenen Ländern, in denen das Recht auf Vergessen bereits in Kraft ist:
In Anbetracht der obigen Ausführungen erscheint es sowohl aus Sicht des Kunden als auch aus Sicht des Versicherers vorteilhafter, dass Fragen zu Krebserkrankungen generell zulässig bleiben sollten. Die Versicherer sind am besten in der Lage zu beurteilen, ob medizinische Informationen relevant sind und ob die offengelegten Informationen unter das Recht auf Vergessen fallen und somit bei der Prüfung des individuellen Risikos ignoriert werden müssen. Damit wird eine Rechtssicherheit gewährleistet, da
Wenn die Aufgabe des „Vergessens“ beim Antragsteller liegt, sollte dem Antrag ein entsprechendes Aufklärungsblatt beigefügt werden, das die Rahmenbedingungen klar erläutert, um den Versicherungsnehmer und den Versicherer vor einer Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht zu schützen.
Chronische Krankheiten passen nicht gut in das Konzept des Rechts auf Vergessen, da die Behandlung nicht als beendet angesehen werden kann. Daher erscheint es nicht sachgerecht, für sie dieselben Grundsätze anzuwenden.
Einschätzungen für Erkrankungen, die wie Krebs ausheilen können, aber dennoch mit einer langfristigen Risikoerhöhung einhergehen, könnten langfristig aus Gründen der Gleichbehandlung jedoch auch auf den Prüfstand gestellt werden. Da die Einschätzungspraxis sich nicht unterscheidet, würde man andernfalls Krebspatienten explizit besserstellen als Personen mit anderen Erkrankungen.
Die Branche hat bewiesen, dass sich die verwendeten Richtlinien der Risikoprüfung im Laufe der Zeit weiterentwickeln und mit dem medizinischen Fortschritt und der Verfügbarkeit statistischer Daten im Einklang stehen. Es liegt im eigenen Interesse der Branche, so viele Menschenleben wie möglich zu versichern – zu fairen Prämien, die das individuelle Risiko berücksichtigen. Die bestehenden Gesetze bieten dafür hinreichende Rahmenbedingungen.
Die Branche wäre gut beraten, die Praxis der Risikoprüfung transparenter zu machen und darzustellen, dass Versicherer eine unterschiedliche Risikobereitschaft haben und dass die Nutzung verschiedener Vertriebskanäle zu unterschiedlich komplexen und unterschiedlich differenzierten Formen der Risikoprüfung und damit auch Einschätzungen führt. Anstelle einer gesetzlichen Umsetzung könnte z. B. auch ein Verhaltenskodex der Branche den Kunden umfängliche und zielgerichtete Informationen liefern, um größtmögliche Rechtssicherheit für Antragssteller und Versicherer zu schaffen.
